Die Zeit: Sech gegen den Strom Wie die Christen−Union die niederländische Politik aufmischt

donderdag 12 april 2007 15:04

Mit seinen 41 Jahren ist Joël Voordewind, der Pastorensohn aus Amsterdam, weit herumgekommen. Er hat viel erlebt auf seinen Reisen  und einiges bewirkt. Voordewind betreute Straßenkinder in Brasilien und half Kindersoldaten in Liberia. Er arbeitete als Aufbauhelfer in Ruanda und Burundi, im Südsudan und in Khartum. Anfang der neunziger Jahre, nach dem ersten Golfkrieg, engagierte er sich in einem Projekt bei den Kurden im Nordirak.

Amsterdam - Zwischendurch hat der gelernte Politologe in Den Haag für den sozialdemokratischen Entwicklungspolitiker Jan Pronk gearbeitet. Er war Idealist, Aktivist, Realist, eins nach dem andern. Heute ist er alles zugleich, seit November vergangenen Jahres sitzt er als Abgeordneter im Parlament der Niederlande, in der Zweiten Kammer, und führt als stellvertretender Vorsitzender die calvinistische Christen−Unie (CU) mit an, die sich
durch eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte auszeichnet.

Die CU hat nur sechs Abgeordnete, aber sie regiert. In dem Bündnis mit den Christdemokraten (CDA) des Premiers Jan Peter Balkenende und den Sozialdemokraten (PvdA) des Finanzministers Wouter Bos ist sie natürlich die kleinste Partei. Doch gerade ihre Handschrift im Regierungsprogramm ist nach Ansicht niederländischer Kommentatoren am deutlichsten sichtbar.

Das hat gute Gründe. Neben den Populisten rechts und links der Mitte ist die Christen−Union die einzige Partei mit ständig steigender Zustimmung. Im Kabinett ist sie mit zwei Ministern und einer Staatssekretärin vertreten. Der Chef, André Rouvoet, zugleich Vizepremier, hat für sich das Ministerium für Jugend und Familie beansprucht, das es in den Niederlanden nun zum ersten Mal gibt, als zweites Ressort besetzt die CU die Verteidigung. Rouvoet ist ein guter Debattierer, der fünffache Familienvater hat hohe Sympathiewerte und versteht es, trotz seines strenggläubigen calvinistischen Hintergrunds locker und leutselig aufzutreten. Kein Mann von Welt, aber authentisch. Vielen anderen fehlt das.

Der Aufstieg der CU, die erst 2001 auf Betreiben von Rouvoet aus zwei christlichen Kleinparteien gebildet wurde, ist eindrucksvoll: Zunächst noch im Schatten der Erregung um den 2002 ermordeten Populisten Pim Fortuyn, konnte die neue Partei 2006 mit vier Prozent der Stimmen ihre Sitzzahl auf sechs verdoppeln. Die Sozialdemokraten waren eingebrochen, auch die Christdemokraten hatten, wenngleich weniger dramatisch, Stimmen und Sitze verloren. Die Tendenz hat sich seither, in den Provinzwahlen vor wenigen Wochen und in den Umfragen kurz vor Ostern, gehalten. Inzwischen hätte die CU fast sechs Prozent und acht Sitze. Was ist los in den Niederlanden? Folgt auf die populistische antiliberale Wende nun eine konservativ−christliche Restauration? Ist der Aufstieg der Christen−Union ein Signal für andere europäische Demokratien, in denen Fragen der Identität und Probleme des sozialen Zusammenhalts eine vergleichbare Bedeutung haben?

Mit den christlichen Traditionen im niederländischen Bibelgürtel sind die Zuwächse der CU in Wahlen und Umfragen nicht zu erklären. Joël Voordewind, der mit seiner Frau und zwei Kindern im Norden von Amsterdam lebt, verweist auf die jüngsten Zuwächse seiner Partei in den Städten. Dort dringt sie offenkundig in die Milieus der Großparteien ein. Als Erklärung könnte dafür nicht zuletzt die politische Biografie Voordewinds herhalten. Als junger Mitarbeiter der PvdA erlebte er Anfang der neunziger Jahre als Mitarbeiter des engagierten Entwicklungs− und Umweltpolitikers Pronk die Grenzen des Idealismus. Eine Erfahrung, die Voordewind veranlasste, der Politik und den Sozialdemokraten alsbald den Rücken zu kehren. Er ging nach Afrika, arbeitete für eine christliche Hilfsorganisation, und als er vier Jahre später in die Niederlande zurückkam, wurde er Mitarbeiter des späteren CU−Gründers Rouvoet und beteiligte sich an dessen Kampagne gegen den tendenziell neoliberalen Reformkurs der damaligen Haager Mitte−links−Koalition unter dem Sozialdemokraten Wim Kok. Eine CU−typische Karriere? Ein PvdA−Mitarbeiter: »Das kenne ich: In den neunziger Jahren haben uns viele aus ähnlichen Gründen verlassen.« Aktivisten, aber vor allem auch Wähler. Und ständig werden es mehr.

Die calvinistischen Kader der CU mögen sich persönlich auf die Bibel beziehen und deren traditionell wörtliche Interpretation hochhalten, politisch hat die Christen−Union aber ein Programm entwickelt, das nah an den Problemen der Bürger ist, zugleich aber seriöser und zupackender wirkt als die sozialegalitären oder fremdenfeindlichen Hauruck−Parolen der Populisten.

Fälle des prinzipientreuen CU−Pragmatismus: In der Regierung setzte sich die Union erfolgreich für eine Legalisierung von fast 30000 Asylbewerbern ein, die von Abschiebung bedroht waren. Sie widersetzte sich, gegen den populistischen Mainstream, einer weiteren Verschärfung des Asylrechts. Dass Abschiebekandidaten unter der zuständigen rechtsliberalen Ministerin Verdonk bei Nacht und Nebel »weggeholt« würden, so hatte die friesische CU−Abgeordnete Tineke Huizinga−Heringa im vorigen Parlament gewettert, das erinnere sie fatal an den 2. Weltkrieg, will sagen: an die Deportationspolitik der Nazis. Die prekäre Analogie sorgte für großen Wirbel, die Mitte−rechts−Regierung war empört, die junge Unionschristin aber gewann mit diesem Brachialeinsatz für eine liberalere Asylpolitik viele Sympathien im liberal−konservativen Bürgertum, vor allem aber auch im Milieu christlicher Zuwanderer aus Surinam, von den Antillen und aus einigen afrikanischen Staaten (insgesamt etwa 800000 Menschen mit Pass und Wahlrecht).

Mal weltoffen−liberal, mal betont wertkonservativ gegen den Strom schwimmt die Christenunion auch bei anderen Themen: Sie ist gegen Abtreibung, Sterbehilfe und die rechtliche Gleichstellung homosexueller Beziehungen und stellt sich damit gegen den niederländischen Konsens. Durchsetzen kann sich die CU in der Regierung hiermit nicht, aber Schwerpunkte werden verlagert oder Begleitprogramme initiiert, zum Beispiel soll statt eines Ausbaus der Sterbehilfe künftig die Palliativmedizin gefördert werden. »Wir können die Gesetze nicht ändern, aber die Praxis«, umschreibt Voordewind die Strategie der kleinen calvinistischen Schritte.

Die Christen−Union wendet sich gegen die Stammzellenforschung, sie ist gegen neue Kernkraftwerke, sie tritt dafür ein, dass Mütter von Kleinkindern gefördert werden, wenn sie die ersten Jahre lieber beim Kind bleiben wollen, statt außer Haus zu arbeiten. Sie sperrt sich gegen weitere Einsparungen zulasten sozial Schwacher.

Auf wachsende Zustimmung außerhalb der Linken und der großstädtischen Alternativszene trifft übrigens die Offensive der Christen−Union gegen die bisherige Drogenpolitik, symbolisiert durch die Coffeeshops, die es im Umkreis von Schulen und Jugendzentren künftig nicht mehr geben soll. Und mehrheitsfähig ist natürlich auch ihre skeptische Haltung gegenüber der EU. In dem Punkt sieht Joël Voordewind keinen Spielraum für Kompromisse. Was immer Kanzlerin Merkel im Schilde führen mag, vor Schleichwegen aus dem Dilemma wird gewarnt. »Die Verfassung ist tot. Mit uns gibt es keinen neuen Versuch keine Präambel, keinen EU−Präsidenten, keinen Außenminister.« Basta!

So ist diese Christen−Union zurzeit vermutlich die bunteste Blume in der europäischen Parteienlandschaft, populär, ohne populistisch zu sein, an Grundsätzen jenseits der Politik orientiert, ohne doktrinär aufzutreten, gelegentlich auch unbequem progressiv und liberal. Und manchmal weckt sie niederländische restliberale Reflexe, wenn sie sich für konservative Wertvorstellungen so massiv ins Zeug legt wie soeben in Utrecht. Als dort eine Wäschefirma auf einem 200 Quadratmeter großen Plakat mit dem Pin−up−Foto einer Frau in goldfarbenem Bikini für ihr Unterwäscheangebot werben wollte, forderte die örtliche Christen−Union sofort ein Verbot. Welche Anmaßung, schallte es zurück, ach und wehe, die alten Spießer kommen wieder! Die Begründung der CU allerdings klang eher zeitgemäß feministisch: Dies sei ein klarer Fall von Diskriminierung der Frau als Lustobjekt. Und eine prominente Frauenrechtlerin sprang der Partei in einer Kolumne der angesehenen Zeitung NRC Handelsblad zur Seite: Früher habe auch sie solche Proteste für Prüderie gehalten. Doch sie habe sich geirrt. »Was den goldenen Bikini angeht, stimme ich der Christen−Union zu.« Die kleine Partei ist offenbar in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Von Werner A. Perger

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